Psychologie

Welche Erfahrungen des großen Künstlers verbergen sich hinter der kosmischen Harmonie des Nachthimmels, dem Funkeln der Sterne und dem Flammen der Zypressen? Was versuchte der psychiatrische Patient in dieser üppigen, fantasievollen Landschaft darzustellen?

«FINDE DEINEN WEG ZUM HIMMEL»

Maria Revyakina, Kunsthistorikerin:

Das Bild ist in zwei horizontale Ebenen geteilt: den Himmel (oben) und die Erde (Stadtlandschaft unten), die von einer Vertikalen aus Zypressen durchbrochen werden. Zypressen, die wie Flammenzungen in den Himmel ragen, ähneln mit ihren Umrissen einer Kathedrale im Stil der «flammenden Gotik».

In vielen Ländern gelten Zypressen als Kultbäume, sie symbolisieren das Leben der Seele nach dem Tod, die Ewigkeit, die Zerbrechlichkeit des Lebens und helfen den Verstorbenen, den kürzesten Weg zum Himmel zu finden. Hier treten diese Bäume in den Vordergrund, sie sind die Hauptfiguren des Bildes. Diese Konstruktion spiegelt die Hauptbedeutung der Arbeit wider: Die leidende menschliche Seele (vielleicht die Seele des Künstlers selbst) gehört sowohl dem Himmel als auch der Erde.

Interessanterweise sieht das Leben am Himmel attraktiver aus als das Leben auf der Erde. Dieses Gefühl entsteht dank der leuchtenden Farben und der für Van Gogh einzigartigen Maltechnik: Durch lange, dicke Striche und den rhythmischen Wechsel von Farbflecken erzeugt er ein Gefühl von Dynamik, Rotation, Spontaneität, das das Unfassbare und Allumfassende betont Kraft des Kosmos.

Dem Himmel wird der größte Teil der Leinwand gegeben, um seine Überlegenheit und Macht über die Welt der Menschen zu zeigen

Die Himmelskörper sind stark vergrößert dargestellt, und die spiralförmigen Wirbel am Himmel sind zu Bildern der Galaxie und der Milchstraße stilisiert.

Die Wirkung von funkelnden Himmelskörpern entsteht durch die Kombination von kaltem Weiß und verschiedenen Gelbtönen. Gelbe Farbe wurde in der christlichen Tradition mit göttlichem Licht, mit Erleuchtung assoziiert, während Weiß ein Symbol für den Übergang in eine andere Welt war.

Das Gemälde ist auch voller himmlischer Farbtöne, die von Hellblau bis Tiefblau reichen. Die blaue Farbe im Christentum wird mit Gott in Verbindung gebracht, symbolisiert Ewigkeit, Sanftmut und Demut vor seinem Willen. Dem Himmel wird der größte Teil der Leinwand gegeben, um seine Überlegenheit und Macht über die Welt der Menschen zu zeigen. All dies steht im Kontrast zu den gedämpften Tönen des Stadtbildes, das in seiner Ruhe und Gelassenheit langweilig wirkt.

«LASS DICH NICHT VOM WAHNSINN VERZEHREN»

Andrey Rossokhin, Psychoanalytiker:

Beim ersten Blick auf das Bild bemerke ich die kosmische Harmonie, die majestätische Sternenparade. Aber je mehr ich in diesen Abgrund blicke, desto deutlicher erlebe ich einen Zustand des Entsetzens und der Angst. Der Wirbel in der Bildmitte zieht mich wie ein Trichter, zieht mich tief in den Raum hinein.

Van Gogh schrieb «Sternennacht» in einer psychiatrischen Klinik, in Momenten der Klarheit des Bewusstseins. Kreativität half ihm, zur Besinnung zu kommen, es war seine Rettung. Das ist der Reiz des Wahnsinns und die Angst vor ihm, die ich im Bild sehe: Jeden Moment kann sie den Künstler aufsaugen, wie ein Trichter hineinlocken. Oder ist es ein Whirlpool? Betrachtet man nur den oberen Bildrand, ist schwer zu verstehen, ob wir in den Himmel blicken oder auf das gekräuselte Meer, in dem sich dieser Himmel mit Sternen spiegelt.

Die Assoziation mit einem Whirlpool ist nicht zufällig: Es sind sowohl die Tiefen des Weltraums als auch die Tiefen des Meeres, in denen der Künstler ertrinkt – seine Identität verliert. Was im Wesentlichen die Bedeutung von Wahnsinn ist. Himmel und Wasser werden eins. Die Horizontlinie verschwindet, Innen und Außen verschmelzen. Und dieses Moment der Erwartung, sich selbst zu verlieren, wird von Van Gogh sehr stark vermittelt.

Das Bild hat alles außer der Sonne. Wer war Van Goghs Sonne?

Das Zentrum des Bildes wird nicht einmal von einem Wirbelsturm eingenommen, sondern von zwei: einer ist größer, der andere kleiner. Frontalzusammenstoß von ungleichen Rivalen, Senior und Junior. Oder vielleicht Brüder? Hinter diesem Duell verbirgt sich ein freundschaftliches, aber kompetitives Verhältnis zu Paul Gauguin, das in einem tödlichen Zusammenstoß endete (Van Gogh stürmte einmal mit einem Rasiermesser auf ihn zu, tötete ihn dabei aber nicht und verletzte sich später durch Abschneiden sein Ohrläppchen).

Und indirekt – Vincents Beziehung zu seinem Bruder Theo, zu eng auf dem Papier (sie standen in intensiver Korrespondenz), in der offensichtlich etwas Verbotenes war. Der Schlüssel zu dieser Beziehung können 11 Sterne sein, die auf dem Bild abgebildet sind. Sie beziehen sich auf eine Geschichte aus dem Alten Testament, in der Josef seinem Bruder erzählt: «Ich hatte einen Traum, in dem mir die Sonne, der Mond, 11 Sterne begegneten und alle mich anbeteten.»

Das Bild hat alles außer der Sonne. Wer war Van Goghs Sonne? Bruder, Vater? Wir wissen es nicht, aber vielleicht wollte Van Gogh, der sehr abhängig von seinem jüngeren Bruder war, das Gegenteil von ihm – Unterwerfung und Anbetung.

Tatsächlich sehen wir auf dem Bild die drei «I» von Van Gogh. Das erste ist das allmächtige «Ich», das sich im Universum auflösen will, um wie Joseph das Objekt der universellen Anbetung zu sein. Das zweite «Ich» ist ein kleiner gewöhnlicher Mensch, befreit von Leidenschaften und Wahnsinn. Er sieht die Gewalt im Himmel nicht, sondern schläft friedlich in einem kleinen Dorf unter dem Schutz der Kirche.

Cypress ist vielleicht ein unbewusstes Symbol dessen, was Van Gogh anstreben möchte

Aber leider ist die Welt der Sterblichen für ihn unzugänglich. Als Van Gogh sein Ohrläppchen abschnitt, schrieben die Stadtbewohner eine Erklärung an den Bürgermeister von Arles mit der Bitte, den Künstler von den übrigen Einwohnern zu isolieren. Und Van Gogh wurde ins Krankenhaus gebracht. Wahrscheinlich empfand der Künstler dieses Exil als Strafe für seine Schuld – für Wahnsinn, für seine destruktiven Absichten, verbotene Gefühle für seinen Bruder und für Gauguin.

Und deshalb ist sein drittes, wichtigstes «Ich» eine verstoßene Zypresse, die weit vom Dorf entfernt ist, aus der Menschenwelt genommen. Zypressenzweige sind wie Flammen nach oben gerichtet. Er ist der einzige Zeuge des Schauspiels, das sich am Himmel abspielt.

Dies ist das Bild eines Künstlers, der nicht schläft, der offen ist für die Abgründe der Leidenschaften und der kreativen Vorstellungskraft. Er wird nicht durch Kirche und Haus vor ihnen geschützt. Aber er ist dank mächtiger Wurzeln in der Realität verwurzelt, in der Erde.

Diese Zypresse ist vielleicht ein unbewusstes Symbol dessen, was Van Gogh anstreben möchte. Spüren Sie die Verbindung mit dem Kosmos, mit dem Abgrund, der seine Kreativität nährt, aber verlieren Sie gleichzeitig nicht den Kontakt zur Erde, zu seiner Identität.

In Wirklichkeit hatte Van Gogh keine solchen Wurzeln. Fasziniert von seinem Wahn verliert er den Halt und wird von diesem Strudel verschluckt.

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